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Lieber Customer Insight…

Lieber Customer Insight!

Ich möchte mich bei dir bedanken.

Ich kenne Dich jetzt seit mehr als 35 Jahren. Heute bist Du in aller Munde. Gebe ich Dich in Google ein, erhalte ich 200 Millionen Treffer. Du wirst als unverzichtbarer Helfer bezeichnet, wenn es um gute Werbung und starke Botschaften geht. Ohne Dich haben Produktinnovationen keinen Erfolg. Ja, sogar für bahnbrechende Business-Modelle und Unternehmensstrategien wirst Du gebraucht. Jeder scheint Dich zu kennen, doch niemand weiss so genau, wer Du eigentlich bist. Die Wikipedia-Definitionen sind nebulös und schwammig, sprechen von der magischen Verbindung zwischen Kunde und Produkt.


Es geschah in den 70er Jahren. Ich war gerade mal 10 Jahre alt, meine Eltern führten eine Werbeagentur und die Menschen im miefigen Mitteleuropa träumten vom Süden, sehnten sich nach Sonne und Meer. Da bist Du mir, lieber Customer Insight, zum ersten Mal begegnet. Auf Plakaten mit riesigen Fencheln, safttriefenden Orangen und prallen Tomaten. Darüber stand: Aus Italien. Sonst nichts. Und die Menschen kauften. Deinen Namen kannte ich damals noch nicht. Ich hörte ihn auch nicht während meines Managementstudiums an der HSG. Den Professoren warst Du fremd, in den schlauen Büchern und wissenschaftlichen Artikeln kamst Du nicht vor.

Erst 15 Jahre später in New York, während meines Praktikums bei Grey International, einer der damals führenden Werbeagenturen, hörte ich wieder von Dir. Die Kreativen und die Account Executives zitierten Dich, wenn sie ihren Auftraggebern ihre Kampagnenvorschläge für Fenster- oder Abflussreiniger schmackhaft machen wollten. Ganz selbstverständlich redeten sie von der erhellenden Erkenntnis über den Konsumenten – d.h. über Dich – die sie gefunden und in eine tolle Werbeidee gegossen hatten.


In meiner Zeit als Marketing Executive bei Procter & Gamble in den 90er Jahren wurden wir enge Freunde. Fast täglich suchte ich Dich und gemeinsam haben wir dann die Konsumenten überzeugt. Und wie! Eltern, die erfuhren, dass Pampers-Babies zufriedener sind, deshalb mehr spielen und schneller lernen und somit eine bessere Zukunft haben werden. Frauen, die vom Märchenprinzen träumten, deshalb Top Models sein wollten und Cover Girl Kosmetika ihnen versprach, dass das zu schaffen sei. Es ging nicht mehr nur um strahlenden Glanz in der Küche (Mr. Proper), sondern um den freien Samstagvormittag mit der ganzen Familie (Swiffer). Die Hausfrau, die geliebt werden wollte und ein schlechtes Gewissen hatte, weil die Wäsche kratzte. Lenor half. Erzähle ich diese Geschichten, schmunzeln viele oder sind empört und verhöhnen Dich sogar. Diese Leute unterschätzen Deine Wirkung, denn Du funktionierst tatsächlich.

Akribisch haben wir dank Dir die verborgenen Motive, Bedürfnisse, Sorgen und Wünsche der Konsumenten aufgedeckt, die Relevanz für den Gesamtmarkt beurteilt und gnadenlos für Werbung und Produktinnovation eingesetzt. Keiner konnte Dir entkommen, lieber Customer Insight, schon gar nicht die Produktentwickler, die aus Dir bahnbrechende Produktideen realisierten. Du weisst selbst, wie es weiterging. Zwar haben wir uns während meiner Zeit in der Strategieberatung bei McKinsey aus den Augen verloren, aber ich hatte Dich immer im Hinterkopf. Nike stieg zum Weltmarktführer auf, nicht nur dank der Air-Technologie, sondern vor allem dank dem vermittelten Gefühl, dass jeder es schaffen kann. Just do it. Dell besass ein tolles Geschäftsmodell, aber auch dank der Erkenntnis, dass Firmen, um erfolgreich zu sein, PCs brauchen, die beim Auspacken nicht schon veraltet sind. Einleuchtend und offensichtlich, doch erst Dell hat’s gemacht. eBay, niemand produziert dieses Kribbeln so intensiv beim Kaufen oder Verkaufen, 3…2…1…meins, nicht nur in der Werbung, sondern im Produkt selbst. Und dann sind da natürlich all die Start-ups damals Ende der 90er Jahre, die Dich, den vertieften, überraschenden Einblick in die Kunden, eben nicht fanden und deshalb das Spielfeld schon bald verlassen mussten.

Nach McKinsey haben wir unsere Freundschaft erneuert. Diesmal nicht mehr nur für so alltägliche Produkte wie Windeln, Waschmittel oder Kosmetika, sondern für so ziemlich alles, was auf dieser Welt verkauft wird. Investitionsgüter, medizinische Geräte, Finanzdienstleistungen, High Tech. Alle profitierten von Dir. Wir ersannen Argumente, die den Verkauf stimulierten. Wir schärften die Value Proposition für bestehende Produkte. Wir entwickelten Produktinnovationen und -konzepte, die Endkunden auch wirklich wollen.

Ein Webdienstleister um die Jahrtausendwende, erkannte dank Dir, dass seine Kunden nicht unbedingt eine schicke Website haben wollten, sondern mehr Umsatz generieren wollten. Eine Chemiefirma, immerhin globaler Marktführer in ihrem Bereich, produzierte ein Pulver, identisch mit einem in China hergestellten, und konnte es nur dank Dir doppelt so teuer verkaufen. Eine kleine aber feine Privatbank stellte fest, dass vermögende Rentner selbst über ihr Geld bestimmen und sich nicht auf dem Golfplatz langweilen wollten. Einem globalen Kraftwerksbauer wurde bewusst, wie schnell er reagieren muss, wenn seine Anlagen plötzlich nicht mehr funktionieren. Ein Technologieanbieter versuchte, auf Biegen und Brechen genau wie Google das Fernsehen mit dem Internet zu verbinden, obwohl Du, lieber Customer Insight, warntest, das ginge nicht.


Ich bin überzeugt, dass du die Kraft besitzt, neue Produkte erfolgreich zu machen, starke Botschaften zu formulieren und innovative Geschäftsmodelle voranzubringen. Aber verrate mir bitte, warum bist du so schwer zu finden? Braucht es dazu wirklich teure Instrumente zur Kundenbeobachtung, Freudsche Tiefenpsychologie, um die letzten Winkel der Kundenpsyche auszuloten, abgehobene Kreativitätstechniken als Inspiration? Ich meine, die konsequente Anwendung der Logik des lösungsfreien Kundenjobs (Job-to-be-done) genügt meist vollauf, um Dich zu entdecken und zu nutzen. Kunden kaufen keinen Bohrer, sondern ein Loch in der Wand. Oder die Möglichkeit, ein Bild aufzuhängen. Und schon entsteht eine neue Perspektive, die es ermöglicht, Dir auf die Spur zu kommen.

Konsumenten wollen kein Putzmittel, sie wollen den freien Samstag geniessen. Sie wollen nicht eine immer bessere Musikqualität, sondern ihre Musiksammlung überall mit hinnehmen können und schnell ihre Lieblingssongs finden. Sie wollen nicht eine Kamera mit mehr Megapixeln, sondern ihre Erinnerungen mit Freunden teilen.

Ich finde, um Dich, lieber Customer Insight, zu entdecken, reicht der lösungsfreie Job-to-be-done-Ansatz völlig aus. Er hilft, zum Kern des Kundenproblems vorzustossen. Wichtig dabei sind allerdings zwei Dinge:


Erstens, man darf die Anstrengung nicht scheuen, wirklich in die Tiefe zu gehen. Und zweitens, man muss beurteilen, ob Du für die Kunden wirklich relevant bist. Denn was nützt es, wenn nur ein Kunde von Dir begeistert ist, Du aber dem Gesamtmarkt egal bist. Nur so wird aus Dir ein Instrument, um die richtigen Produkte zu entwickeln, differenzierende Nutzenversprechen zu formulieren, ja eine gewinnbringende Marktstrategie zu verfolgen. Danken werden es Dir die Kunden, sei es der vermögende Rentner, der Kraftwerksbetreiber oder die Eltern von glücklicheren Babies.

Hochachtungsvoll

Dein Beat Walther

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