Kunden haben sich in den letzten Jahren vor allem wegen der digitalen Revolution zur zentralen Marktkraft entwickelt. Die neue Macht der Kunden zwingt Unternehmen zu einem radikalen Umdenken. Die auf der Job-to-be-done-Logik basierende CFI-Methode kann die nötige Transformation vorantreiben, indem sie einen neuen, unverfälschten Blick aus Sicht der Kunden möglich macht.
Transformation wird vom Kunden getrieben
Heute gibt es kaum ein Unternehmen, das nicht für sich in Anspruch nimmt, kundenorientiert zu handeln. Offen bleibt, wie konsequent und in welchem Ausmass.
Bei vielen Unternehmen erfolgt die Differenzierung gegenüber dem Wettbewerb über Technologie oder Prozessoptimierung. Grosse Innovationssprünge oder neue Geschäftsmodelle entstehen dabei selten. Der Auf- und Ausbau von Wettbewerbsvorteilen erfolgt meist über Produktverbesserungen, Neuprodukte im bestehenden Markt und Behebung von Schwächen in den Prozessen.
Während die Fixierung auf Technologie und Prozesse früher reichte, genügt das heute nicht mehr. In den letzten 20 Jahren ist der Kunde, Konsument und Nutzer mehr denn je zur aktiven, zentralen Marktmacht geworden. Er lernt schnell und ändert die Spielregeln laufend. Diente ihm das Internet vor 20 Jahren der Informationssuche, dann der Produkt- und Leistungsbeschaffung, so nutzt er es heute, um Einfluss auszuüben. Er ist nicht mehr nur Empfänger von Botschaften, sondern auch Mitgestalter, Bewerter, Blogger, „Empowered Patient“, Meinungsmacher und vieles mehr. Selbstbewusst nutzt er neue Geräte, Apps, Internet-Plattformen und Social Media. Scheinbar treulos wechselt er Marken, Netzwerke, Einkaufskanäle oder Anbieter.
Er nimmt Innovationen an oder auch nicht. So zwingt er Unternehmen zur Transformation, mit fundamentalen Veränderungen für Strategie, Prozesse oder gar ganzer Geschäftsmodelle.
Kernthesen
Leitbilder und Change Programme reichen nicht aus, um eine Transformation zu steuern. Es braucht Inhalte, die aus der unverfälschten Kundensicht heraus generiert und validiert werden. Die Kundensicht kann unverfälschter verstanden werden, wenn die funktionalen, emotionalen und sozialen Ziele direkt mit dem Nutzer aufgedeckt werden. Je konkreter und repräsentativer die Kunden und ihre Schmerzpunkte begriffen werden, desto klarer wird die Stoßrichtung für die Transformation.
Der Artikel zeigt, wie Kunden im digitalen Zeitalter die Spielregeln in fast allen Märkten ändern und Unternehmen als Folge die Kunden stärker in den Mittelpunkt stellen müssen. Damit diese Zentrierung auf die Kunden gelingt, schlagen die Autoren vor, mittels eines gesteuerten Perspektivenwechsels eine neue Kundenkultur zu schaffen, die im gesamten Unternehmen so gelebt wird, dass sie in Strategie-, Innovations- und Marketingentscheidungen einfliesst. Anhand der Job-to-be-Done-Logik und der darauf aufbauenden CFI-Methode wird dargelegt, wie ein Perspektivenwechsel auf die unverfälschte Sicht der Nutzer eingeleitet werden kann und welche Fallstricke es dabei zu vermeiden gilt.
Praktisch jede Branche betroffen
Der CEO eines führenden Hörimplantate-Herstellers erkennt, dass die letzten Neueinführungen nur marginal zum Umsatzwachstum beigetragen haben und fragt sich: Wie schaffen wir in der Produktentwicklung den Wandel von „physician-centric“ zu „patient-centric“? Die nicht- klinischen Einflussgruppen wie Patienten, Angehörige oder Krankenkassen sind besser informiert als je zuvor und haben bei der Wahl des Geräts stark an Einfluss gewonnen.
Der Head of Marketing eines europäischen Distributors für elektronische Komponenten in B2B weiss: Unsere Kunden stellen von Katalog auf Online um, suchen im Netz statt auf unserer Website und kaufen bald nur noch beim billigsten Anbieter, wenn es uns nicht gelingt, uns zu differenzieren. Das Unternehmen schafft gerade rechtzeitig den Sprung ins Netz, da erwarten die Kunden bereits mobile Lösungen. Er fragt sich: In welche Richtung entwickle ich unseren Marketingansatz? Wie bringe ich andere Funktionsbereiche dazu, den Wandel mitzutragen?
Ein globales Agrochemie-Unternehmen, das seine Produkte in jeder Ecke der Welt an lokal tief verwurzelte Bauern vermarket, beobachtet, dass sein Einfluss auf die Bauern über die klassischen Retailer, Werbung und die lokalen Verkaufsberater schwindet, da sie dank Mobiltelefonen ihre Felderbestellung selber optimieren. Wie soll die Beziehung zum Bauern aufrechterhalten und weiterentwickelt werden?
So unterschiedlich die Situationen scheinen, sie werden immer vom Kunden und seinem zunehmenden Markteinfluss bestimmt. Viele Entscheidungsträger haben deshalb die Notwendigkeit erkannt, den Kunden als Dreh- und Angelpunkt zu etablieren und so eine Kundenkultur zu schaffen, die alle Funktionsbereiche durchdringt.
Job-to-be-done-Logik in Theorie und Praxis
Die Grundidee von Job-to-be-done geht auf Ted Levitt zurück, der mit Marketing Myopia eine richtungsweisende Denkhaltung ins Marketing gebracht hat (Levitt 1960). Seine Aussage „Kunden wollen keinen Bohrer, sondern ein Loch in der Wand“ erklärt die Idee. Clayton Christensen, der mögliche Handlungsstrategien etablierter Unternehmen gegen disruptive Innovationen untersucht, verwendet die Logik als Weg, um Erwartungshaltungen von Kunden zu erkennen. Er sagt, dass Kunden ein Produkt „anstellen“, um damit einen Job auszuführen (Christensen 2003). Eine mittlerweile führende Denkschule im Marketing, die Service-Dominant Logic (Vargo/ Lusch 2004, Vargo/Lusch 2008), geht von einer verwandten Grundannahme aus, wenn sie sagt, nicht das Produkt an sich, sondern seine Verwendung stiftet den Nutzen. Es ist der Value-in-Use, der zählt und nicht mehr der Value- in-Exchange, der die Transaktion, d.h. den Kauf, in den Mittelpunkt stellt. Verschiedene Praktiker nutzen diese Logik ebenso, z.B für Innovationsmanagement (Ulwick 2005) oder Geschäftsmodellentwicklung (Osterwalder 2011). Die User-Centered-Design-Bewegung verfolgt den Ansatz, um Handlungen von Kunden zu beobachten und um zu verstehen, welche Ziele diese erreichen wollen.
Der Kunde als Transformationsbeschleuniger
Wer eine Transformation weg von Technologiedominanz oder Verteidigung des Geschäftsmodells hin zu einer Kundenkultur einleiten will, muss aus Sicht der Autoren einen Perspektivenwechsel herbeiführen. Der Blickwinkel ist nicht mehr vom Unternehmen auf die Kunden, sondern vom Nutzer und seiner Lebenswirklichkeit auf die Unternehmen und deren Leistungen.
Der Perspektivenwechsel muss unmissverständlich erfolgen, damit allen Hierarchieebenen und Funktions- bereichen die Bedeutung der unverfälschten Kundensicht für die tägliche Arbeit klar wird. Wie und warum nutzen Kunden Produkte oder Dienstleistungen, was erleben, fühlen und denken sie dabei. Dies lässt sich effizient erreichen, wenn die Kundenerwartungen konkret, im Kontext formuliert und repräsentativ gemessen vorliegen. Darauf bauend kann eine neue Kundenkultur entstehen und zur steuernden Transformationskraft werden. Der «Kunde» wird hier im erweiterten Sinn verstanden und umfasst auch Nutzer und Einflussnehmer auf Kaufentscheidungen.
Um den Kunden als Transformationsbeschleuniger zu nutzen, schlagen die Autoren ein Vorgehen in drei Schritten vor, analog Lewins 3-Phasen-Modell für Verhaltensänderungen (Lewin 1947).
Im ersten Schritt (Unfreeze) werden Management und Teams aus ihrer Wahrnehmungsrealität herausgeholt. Eine vertiefte Exploration deckt die unverfälschte und konkrete Sicht der Kunden auf. Das bestehende subjektive Kundenverständnis wird ergänzt durch ein möglichst authentisches Verständnis der Lebenswirklichkeiten und der sich daraus ergebenden Schmerzpunkte der Kunden. Indem eine andere Realität gezeigt wird, hilft dieser Transformationsschritt, vorgefasste Meinungen und Widerstände aufzuweichen.
Im zweiten Transformationsschritt (Change) wird die Überzeugung gestärkt, wie die Kundenrealität konkret aussieht und welche Stossrichtungen sich daraus ergeben. Dies wird erreicht, indem die Ergebnisse der Kundenexploration quantitativ erhärtet, wirkungsvoll dargestellt und die Implikationen diskutiert werden.
Im dritten Transformationsschritt (Anchor) wird das neue Verständnis der Kundenwirklichkeit verankert. Dies erfolgt, indem Entscheidungen, Prioritäten, Strategien und Massnahmen gemäss Kundensicht erarbeitet werden. Die intensive Beschäftigung mit der Kundenrealität anhand von konkreten Aufgaben bewirkt, dass sich der Perspektivenwechsel manifestiert und eine echte Kundenkultur entstehen kann.
Fallstricke beim Perspektivenwechsel
Um den Blickwinkel um 180 Grad zu drehen – vom Kunden zum Unternehmen (anstatt umgekehrt) – sind drei Fallstricke zu vermeiden:
1. Verzerrte Wahrnehmung in der Organisation
Jeder Mitarbeiter nimmt selektiv wahr. Ein Produkt- entwickler entscheidet aus Ingenieursicht und verfolgt seine technische Agenda. Ein Verkaufsberater ist in Gedanken beim letzten Kundenmeeting: Preisfor- derungen, Qualitätsprobleme oder Produktvorteile der Konkurrenz. Die Geschäftsleitung fokussiert sich auf die Verteidigung der Profitmarge und auf die Ansprüche der Aktionäre. Die selektive Wahrnehmung wird weiter verzerrt durch systematische Unschärfen im Beurteilungsvermögen. Dieses Phänomen ist wissenschaftlich gut belegt (Bazerman 2013). So neigen Menschen dazu, nach Bestätigungen für ihr Denken zu suchen („confirmation bias“) oder sich selbst zu überschätzen („over-confidence bias“). Entscheider sollten sich des Phänomens der verzerrten Wahrnehmung sowie der Unschärfen im Beurteilungsvermögen bewusst sein.
2. Kunden bleiben in ihrem Erfahrungsrahmen
Kunden wissen nur, was sie selbst erfahren oder gehört haben. Sie können sich nicht vorstellen, was es noch nicht gibt. Fragt man sie direkt nach Innovationen oder neuen Technologien, sind sie hilflos (Ulwick 2002). Kunden hätten nie das Fax erfunden, hätte man sie nach neuen Ideen zum Briefverkehr gefragt. Kein Kunde würde vorschlagen, statt mit seinem Geldbeutel mit einer Armbanduhr zu bezahlen. Deswegen führt das Befragen von Kunden zu neuen Lösungen bestenfalls zu marginalen Verbesserungen oder – noch schlimmer – zu einer weiteren Angleichung der Angebote.
3. Kundenverständnis mit zu geringer Tiefe
Menschen beurteilen ein Produkt oder eine Dienstleistung intuitiv aufgrund von Hunderten von Erwartungskriterien, anhand derer sie den Wert festlegen. Viele Unternehmen kennen und nutzen diese Erwartungs- kriterien nicht. Sie bleiben auf der Ebene von generischen Bedürfniskonzepten stehen wie z.B. dem Wunsch nach Flexibilität, nach Bequemlichkeit, nach Sicherheit oder nach Qualität. Auf diesem Abstraktions- grad sind Bedürfnisse ungeeignet, eine Transformation zu steuern.
Der Kunde in der Job-to-be-done-Logik
Die hier vorgestellte Job-to-be-Done-Logik und die darauf aufbauende CFI-Methode (CFI = Customer Focused Innovation) bieten eine wirksame Möglichkeit, um die drei Fallstricke zu umgehen und einen wichtigen Beitrag zum Perspektivenwechsel innerhalb eines Unternehmens zu leisten.
Die Grundidee ist einfach: Bei allem, was Menschen tun, verfolgen sie funktionale, emotionale oder soziale Ziele. In der Job-to-be-done-Logik werden diese Ziele „Jobs“ genannt. Um das jeweilige Ziel zu erreichen, nutzen Menschen Hilfsmittel, z.B. ein Produkt oder Service, aber auch eine Handlung oder einen Lieferanten. Jedes Mittel wird bewusst oder unbewusst danach beurteilt, wie gut es hilft, den Job zu meistern. Ein so alltäglicher Job wie z.B. „über Distanz zu kommunizieren“ wird durchgeführt mit Hilfe von WhatsApp, Telefon, Brief, Fax oder früher dem persönlichen Boten. Ein Job ist lösungsneutral und kann deshalb über lange Zeit unverändert bleiben. Dagegen unterliegen Hilfsmittel einem technologischen Wandel (Abb. 1). Ein Hilfsmittel wird solange genutzt, wie es dem Nutzer dient. Ein Wechsel von der bestehenden zu einer neuen Lösung erfolgt erst, wenn dieser es aus Sicht des Nutzers „wert“ ist. Das kann schnell (Sony Walkman, Smartphone), langsam (On-demand TV) oder eben gar nicht erfolgen (Bildtelefon in den 70er Jahren). Die Geschwindigkeit der Adoption hängt oft von der Technologie und den Kosten für den Kunden ab.
Die Job-to-be-done-Logik umgeht die drei oben beschriebenen Fallstricke, da sie a) strikt die Kundenperspektive einnimmt und so Wahrnehmungs- verzerrungen aus der Unternehmens-Innensicht ausschaltet, b) Lösungen konsequent ausblendet und so den limitierenden Erfahrungsrahmen der Kunden sprengt, c) es ermöglicht, den Job dank explorativer Methoden in kleinste Einheiten aufzubrechen, und so konkrete und präzise Erwartungskriterien aufdeckt.
Eine neue Kundenkultur schaffen
Um einen Perspektivenwechsel in der Praxis hin zu einer Kundenkultur durchzuführen, haben die Autoren in der CFI-Methode verschiedene Ansätze vereinigt und in mehr als 90 Projekten weiterentwickelt. Die CFI-Methode wird nachfolgend entlang der drei Phasen einer Transformation aufgezeigt.
Transformationsschritt 1 (Unfreeze): Eine neue Kundenrealität aufdecken
Als erstes werden die für Kauf und Nutzung wichtigsten Einflussgruppen und deren Kontext bestimmt. Vor Einstieg in die Kundenexploration ist es entscheidend, den übergreifenden Kernjob der Kunden als Hypothese möglichst richtig abzustecken. Er muss ein Ziel oder einen Zweck ausdrücken, lösungsneutral formuliert sein und sollte weder zu generisch noch zu eng gefasst sein. Die Diskussionen und idealerweise eine erste Explorationswelle verändern bereits den Blickwinkel. Es wird z.B. klar, dass unterschiedliche Einflussgruppen in der Regel völlig andere Kernjobs verfolgen (Abb. 2).
Basierend auf der entwickelten Hypothese zum Kernjob und seinen Jobschritten, erfolgt die Tiefenexploration beim Kunden. Sie ist ein zentraler Baustein der CFI- Methode, um die Kundenrealität aufzudecken. Mit der Exploration werden das Verhalten der Kunden und ihre funktionalen, sozialen und emotionalen Erwartungskriterien, sogenannte Value Metrics, möglichst vollständig und in Kundensprache für jeden Jobschritt erfasst. Am Ende sind mit anonym rekrutierten Kunden 300-400 Erwartungskriterien aufgedeckt. Diese werden auf maximal 100 Erwartungskriterien kondensiert. Das intensive Befassen mit von Kunden formulierten Erwartungskriterien ist ein wichtiger Schritt, um ein neues, unverfälschtes Kundenverständnis zu entwickeln.
Als erstes werden die für Kauf und Nutzung wichtigsten Einflussgruppen und deren Kontext bestimmt. Vor Einstieg in die Kundenexploration ist es entscheidend, den übergreifenden Kernjob der Kunden als Hypothese möglichst richtig abzustecken. Er muss ein Ziel oder einen Zweck ausdrücken, lösungsneutral formuliert sein und sollte weder zu generisch noch zu eng gefasst sein. Die Diskussionen und idealerweise eine erste Explorationswelle verändern bereits den Blickwinkel. Es wird z.B. klar, dass unterschiedliche Einflussgruppen in der Regel völlig andere Kernjobs verfolgen (Abb. 2).
Basierend auf der entwickelten Hypothese zum Kernjob und seinen Jobschritten, erfolgt die Tiefenexploration beim Kunden. Sie ist ein zentraler Baustein der CFI- Methode, um die Kundenrealität aufzudecken. Mit der Exploration werden das Verhalten der Kunden und ihre funktionalen, sozialen und emotionalen Erwartungskriterien, sogenannte Value Metrics, möglichst vollständig und in Kundensprache für jeden Jobschritt erfasst. Am Ende sind mit anonym rekrutierten Kunden 300-400 Erwartungskriterien aufgedeckt. Diese werden auf maximal 100 Erwartungskriterien kondensiert. Das intensive Befassen mit von Kunden formulierten Erwartungskriterien ist ein wichtiger Schritt, um ein neues,
Welches Format für die Exploration genutzt wird, ist eine Frage der Themenstellung und der angestrebten Effizienz. Die CFI-Methode kombiniert unterschiedliche Elemente aus Marktforschung, User-centered Design Research und Ethnographie. Massgeblich ist, dass die Erwartungskriterien konkret und präzise formuliert sind und keine Lösung enthalten. Sie folgen einem bestimmten Aufbau, aus dem sich eine Syntax ergibt (Abb. 3).
Erwartetes Ergebnis: Jobs werden ausgeführt, um ein Ziel, ein Ergebnis zu erreichen.
Kontext: Jobs werden immer in einem spezifischen Kontext ausgeführt. Der Kontext eines Diabetespatienten ist im Urlaub ein ganz anderer als während der Arbeit.
Messgrösse: Kunden urteilen aufgrund von Messkriterien, die sie unbewusst oder bewusst anwenden. Das können z.B. Zeit, Anzahl Arbeitsschritte oder Anzahl positiver Reaktionen sein.
Die relativ hohe Anzahl von ca. 100 Erwartungskriterien ist nach Erfahrung der Autoren nötig, um Fallstrick 3 zu umgehen. Kunden urteilen aufgrund von vielen konkreten Erwartungen, nicht aufgrund von wenigen generellen Bedürfnissen.
Fallbeispiel: Privatbank Ausgangslage: Der Leiter Private Banking Schweiz identifiziert als Wachstumsfeld Personen, die in den nächsten 5 Jahren in Pension gehen. Das Schweizer Pensionskassensystem ermöglicht es, mit 65 anstelle einer monatlichen Rente das angesparte Kapital zu beziehen. Die verfolgte Wachstumsstrategie nutzt bewährte Elemente: einen spezialisierten Kundendesk mit Kundenberatern, passende Produkte aus der Angebotspalette und eine dedizierte Marktkommunikation mit Werbematerial und spezieller Internetseite. Die Kernbotschaft lautet: Geniessen Sie Ihr Leben, wir kümmern uns um Ihr Vermögen.
Das Ergebnis ist ernüchternd: Trotz zweijähriger Anstrengungen wird kaum ein Neukunde gewonnen. Das nachfolgende CFI-Projekt legt zunächst die Perspektive aus Kundensicht fest. Zielkunden sind Männer und Frauen, die in 3-5 Jahren in Pension gehen und über ein definiertes Mindest-Alterskapital verfügen. Der Kernjob auf oberster Ebene lautet: „die dritte Lebensphase planen“. Eine Ebene tiefer lautet er: „die Finanzsituation für die dritte Lebensphase regeln“. Die Kundenexploration erfolgt über 30 Tiefeninterviews mit anonym rekrutierten Zielkunden. Sie fokussiert auf diese beiden Jobs und bricht sie in 125 konkrete und präzis formulierte Erwartungskriterien auf. Die Projektgruppe erkennt, was die Zielkunden erreichen wollen und wie konkret Kunden die Angebote und Lösungen bewerten.
Transformationsschritt 2 (Change): Kundenrealität annehmen und akzeptieren
Die vielen Erwartungskriterien rund um den Job, den der Kunde erfüllen möchte, sind wertvolle Puzzleteile. Sie müssen nun in eine neue, von der Organisation nachvollziehbare Ordnung gebracht werden. Dies erfolgt über die quantitative Validierung. Mit einer repräsentativen Anzahl von Interviews werden alle identifizierten Erwartungskriterien durch Zielkunden bewertet. Dabei werden Wichtigkeit und Grad der Erfüllung im Alltag der Kunden abgefragt. Das zentrale Ergebnis der Validierung, dem zweiten CFI- Kernbaustein, ist eine 4-Felder-Matrix, die sogenannte Kundenwert-Landkarte (Abb. 4). Sie setzt alle erfassten Jobschritte und Erwartungskriterien zueinander ins Verhältnis. Somit kann man in einem späteren Schritt definieren, wie die zukünftige Angebotsstrategie zu priorisieren und auszugestalten ist und welche Transformation diese Strategie bedingt. Alle validierten Erwartungskriterien fallen in eine der vier Kundenwert-Kategorien:
Wert aufbauen (Wichtigkeit > Median, Erfüllungsgrad < Median): Wichtige Kunden-Erwartungskriterien sind nicht ausreichend befriedigt und stellen sogenannte Schmerzpunkte (= Pain Points) für den Kunden dar. Sie zu adressieren, stellt den größten Mehrwert aus Sicht der Kunden dar. Hier besteht das höchste Potenzial, sich mit relevanten Innovationen vom Wettbewerb zu differenzieren.
Wert halten (Wichtigkeit > Median, Erfüllungsgrad > Median): Aus Sicht des Kunden sind dies Basis- Anforderungen (= Essentials), die ihm sehr wichtig sind, deren Erfüllung aber auch erreicht ist. Hier ergeben sich für Unternehmen wenig Möglichkeiten, sich zu differenzieren, aber unter Umständen viele Hausaufgaben, um mitzuhalten.
Wert reduzieren (Wichtigkeit < Median, Erfüllungsgrad > Median): Kundenerwartungen, die nicht wichtig und gleichzeitig überbefriedigt sind, bieten wertvolle Ansatzpunkte für Kosteneinsparungen (= Cost Savers) oder eine Blue Ocean Strategie (Kim 2005). Hier ist in regelmässigen Abständen ein offenes Hinterfragen des eigenen Angebots angebracht, da besonders aus diesem Quadranten disruptive Geschäftsmodelle entstehen können.
Wert im Auge behalten (Wichtigkeit < Median, Erfüllungsgrad < Median): Diese Erwartungskriterien (= Sleepers) können ignoriert oder selektiv und mit niedrigerer Priorität als Ideenquelle genutzt werden.
Bereits eine erste Analyse ergibt wertvolle Erkenntnisse für die Stossrichtung der Transformation. Um die Kundensicht weiter zu schärfen, wird die Kundenwert- Landkarte zusätzlich für weitere Kriterien erstellt, z.B. Sozio-Demographie, Region, Bedürfniscluster, Produktkategorie, Wettbewerb.
Fallbeispiel: Privatbank (Fortsetzung) Die Projektgruppe akzeptiert, dass die Kundenrealität von der eigenen Wahrnehmung der Kundenprobleme abweicht, teilweise sogar gravierend. Die Liste der mehr als 100 konkreten Erwartungskriterien von Kunden in Bezug auf die Organisation der dritten Lebensphase ist beeindruckt. Da die Kundenexploration qualitativ ist bleibt unklar, welche Erwartungskriterien am relevantesten sind. In der Validierung bewerten 220 Zielkunden jedes Erwartungskriterium nach Wichtigkeit und Erfüllungsgrad. Die gemeinsam durchgeführte Analyse deckt auf: Es gibt 14 ausgeprägte Schmerzpunkte, die angehend Pensionierte bei der Organisation der dritten Lebensphase erfahren. Weitere 10 Essentials zeigen, welche Erwartungskriterien das künftige Angebot unbedingt adressieren muss. Die Analysearbeit führt zu einem übergreifenden, sehr emotionalen Kunden-Insight: „Ich bin in Sorge, nach Austritt aus dem Berufsleben nicht mehr wichtig zu sein, nicht mehr mitbestimmen zu können und keine sinnvolle Beschäftigung mehr zu haben.“
Transformationsschritt 3 (Anchor): Kundenrealität verankern und umsetzen
Transformation hin zum Kunden als Zentrum der Geschäftsstrategie braucht eine breite Verankerung der Kundenkultur weit über das Marketing hinaus. Daher werden die Ergebnisse der CFI-Analyse sowohl mit dem Top-Management wie auch mit der Organisation geteilt. Ziel ist jedoch nicht nur die Vermittlung der Ergebnisse, sondern die Erarbeitung von Strategien und Massnahmen pro Funktionsbereich wie auch übergreifend. Möglichst schnell werden aus den gewonnen Erkenntnissen die Prioritäten aus Kundensicht definiert und ein Vorgehensplan erarbeitet. Das erfolgt in Workshops und internen Arbeitsgruppen. Themen, die besonders helfen, die Transformation zu verankern sind: Schärfung der Value Proposition für bestehende und neue Marktleistungen, Neuausrichtung der Innovationspipeline, Ideengenerierung für neue Innovationskonzepte und Entwicklung von neuen Elementen für das Geschäftsmodells. In dieser Phase werden Organisationen oft wieder „rückfällig“, indem sie in die bisherigen, z.B. vom Technologie-Fokus geprägten, Entscheidungsmuster zurückfallen. Wichtig ist es daher, einen Prozess zu definieren, in dem der Kunde – auch im übertragenen Sinn – immer mit am Tisch sitzt.
Das gesamte Vorgehen wirkt zweifach beschleunigend auf die Transformation. Zum einen ergibt sich mit der CFI- Methode ein sehr konkreter Entscheidungsrahmen für schärfere Value Propositions und kundenfokussierte Innovationen. Sehr früh im Prozess, zum Teil noch vor der Zusage hoher Investitionen, wird klar, welche Ideen und Konzepte gute Erfolgschancen im Markt haben werden und welche nicht. Zum anderen führt das so gewonnene Kundenwissen zu einer neuen Qualität der Ziel- und Vorgehensabstimmung in der Organisation. Spekulative Diskussionen bekommen keinen Raum, und Entscheidungen rund um Innovation und Transformation erfolgen faktenbasiert. Der Go-to-market-Prozess wird dadurch wesentlich verkürzt.
Fallbeispiel: Privatbank (Fortsetzung) Die im Zusammenhang mit der Organisation der dritten Lebensphase aufgedeckten Schmerzpunkte und Essentials sowie der emotionale Kunden-Insight geben dem Projektteam die Stossrichtung vor: Das jetzt verfügbare Vermögen wird zum wichtigen Lebensbestandteil. Die Zielkunden wollen selber darüber bestimmen, so oft und so lange wie möglich. Kräfte werden mobilisiert, um den bestehenden Ansatz zu transformieren. Innert kürzester Zeit werden neue Serviceangebote entwickelt. Die Anlagestrategie wird in drei Bestandteile unterteilt: Sicherheit, Entnahme und Ertrag. Sie lässt sich neu jederzeit ändern. Ein vom Kunden selbst zu nutzendes Simulationstool wird entwickelt. Ein neuer Desk wird aufgebaut mit Finanzexperten aus der Versicherungsbranche, die näher an der Zielgruppe sind. Der Beratungsprozess nimmt die identifizierten Schmerzpunkte und Essentials konkret auf. Die Werbeagentur findet einen passenden Namen, der den Kunden-Insight perfekt aufnimmt, und kreiert eine Kampagne mit einer Kernbotschaft, die die Zielkunden abholt: Sie wussten schon immer, was Sie mit Ihrem Geld anfangen. Bleiben Sie dabei. Das Ergebnis bestätigt den Wert des Perspektivenwechsels: Die bestehenden Kunden der Bank, die ins Zielprofil passen, werden für das neue Angebot begeistert. Viele Neukunden, die vorher keine Beziehung zur Bank hatten, werden gewonnen. Neugeld in dreistelligem Millionenbetrag fliessen der Bank zu.
Fazit
Kunden treiben den Wandel mit ihrer Marktkraft – egal ob in B2B- oder B2C-Märkten – und steuern so die Entwicklung eines Unternehmens. Täglich von Neuem entscheiden sie mit ihrem Verhalten und ihrem Geldbeutel über Erfolg und Misserfolg einer Marktleistung. Die Kunden – und nicht die Technologie oder den Wettbewerb – ins Zentrum der Transformation zu stellen, gehört daher zu den wichtigsten Aufgaben jedes Führungsteams. Das lässt sich einfacher steuern und voran treiben, wenn die ganze Organisation die Kunden möglichst umfassend und unvoreingenommen aus deren Blickwinkel kennt. Dabei kann die CFI-Methode mit ihrer Job-to-be- done-Logik einen Beitrag leisten. Sie ist eine bewährte Methode, die nicht nur Kundenerwartungen erfasst und validiert, sondern spezifische Inhalte für den ganzen Transformations-, Positionierungs- und Innovationsprozess liefert und so eine neue Kundenkultur schafft.
Handlungsempfehlungen
Sich so unbelastet wie möglich auf die Lebenswirklichkeit des Kunden einlassen, um typische Unschärfen der eigenen Beurteilung zu vermeiden.
Die Job-to-be-done Logik nutzen, um den Nutzungsprozess und -kontext eines Produktes oder einer Dienstleistung aus der Kunden-, und nicht aus der Innensicht, zu begreifen.
Lösungsneutrale Erwartungskriterien der Nutzer so präzise und repräsentativ wie möglich aufdecken, um maximale Klarheit für die Stoßrichtung und Inhalte der Transformation zu erhalten.
Die neue Kundensicht als operativen Orientierungspunkt über alle Hierarchien und Bereiche verankern und damit den Kunden im übertragenen Sinn „an den Tisch bringen“.
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